Er ist unser „Brain“ im erweiterten Ergobaby-Team und versorgt uns in unserem Blog regelmäßig mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Rede ist von keinem geringeren als Chefwissenschaftler Dr. Henrik Norholt, seines Zeichens Mitglied der „World Association of Infant Mental Health“. Seit 2001 studiert er die Effekte des Babytragens und deren Einfluss auf die Psyche und motorische Entwicklung des Kindes. Heute berichtet er von neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, die dazu beitragen könnten, dass das Babytragen als medizinische Behandlungsmethode anerkannt wird – mit weitreichenden Folgen für unsere Kinder.
Viele von uns haben beim Tragen unserer Babys sehr tiefgehende, persönliche Erfahrungen gemacht. Einige haben miterlebt, wie getragene Kinder sich oft außergewöhnlich positiv, empathisch und widerstandsfähiger entwickelt haben. Wir tendieren dazu, diese positive Entwicklung unserer Kinder sowie unsere Beziehung zu ihnen der Tatsache zuzuschreiben, dass wir unsere Kinder getragen haben und daher einen intensiven Frühkontakt hatten.
Einige haben sich deshalb für Weiterbildungen entschieden, um anderen Eltern zu ermöglichen, ähnliche positive Erfahrungen mit dem Babytragen zu machen. Es gibt mittlerweile sogar eine internationale Bewegung, um medizinische Anerkennung für den intensiven Frühkontakt zu schaffen und den medizinischen Fachberuf der Babytrageberatung zu etablieren. So könnten alle Eltern – unterstützt durch das offizielle perinatale Gesundheitssystem – zum Babytragen ermutigt werden.
Um solche medizinische Anerkennung zu erreichen, genügen diese persönlichen Erfahrungen, wie wertvoll sie für jeden Einzelnen von uns auch sein mögen, den Anforderungen der modernen Medizin nicht. Die moderne Medizin muss evidenzbasiert sein, was bedeutet, dass für jede neue Praxis, die von Ärzten umgesetzt und unterstützt wird, strenge wissenschaftliche Studien durchgeführt werden müssen, die die Auswirkungen dieser Praxis belegen.
Studien mit bildgebenden Verfahren könnten Ärzte überzeugen
Die Ergebnisse, die für die Praxis des Babytragens bisher untersucht wurden, waren hauptsächlich sogenannte kindliche Verhaltensergebnisse.1–4Solche Studien konzentrieren sich unter anderem auf die Laute, die Körpersprache, den Blickkontakt und die Mimik des Babys. Die Untersuchungen der Verhaltensauswirkungen des Babytragens wurden durch jahrzehntelange detaillierte Studien diverser Forscher (vor allem Psychologen und Psychiater) über die Entwicklung von Kindern ermöglicht. Durch diese wissen wir jetzt, was positives oder adaptives Verhalten von Kindern überhaupt ist – auch wenn sie gerade mal ein paar Monate alt sind.5–7Einige Ansätze bewerten sogar das Verhalten von Neugeborenen und können die spätere psychologische Entwicklung ziemlich gut vorhersagen.8
In den letzten Jahren haben sich Forscher sowohl aus der Psychologie wie aus der Psychiatrie neuen und körperlich fundierteren Ansätzen zugewandt, wie z.B. Studien des Gehirns durch bildgebende Verfahren.9Für Ärzte, die sich in der Vergangenheit auf die physiologische Seite von Gesundheit und die physiologische Heilung von Krankheiten spezialisiert haben, sind solche körperlich fundierten Messansätze (z. B. die Darstellung des Gehirns durch bildgebende Verfahren) glaubwürdiger.
Daher ist es überaus spannend, dass eine Forschungsgruppe an einer der renommiertesten Universitäten der Welt, der Columbia University in New York City, beschlossen hat, streng kontrollierte Untersuchungen der Gehirnentwicklung von Babys mit bildgebenden Verfahren durchzuführen, deren Mütter körperlichen Kontakt ermöglichten. Diese verglichen sie dann mit Babys, die während ihres frühen Lebens außerhalb der Gebärmutter weniger oder überhaupt keinen Körperkontakt hatten.10
Die untersuchten Kinder waren Frühgeborene, die zwischen den Schwangerschaftswochen 26 und 34 geboren wurden. Der von den Forschern angewandte Ansatz trägt den Namen „Family Nurture Intervention“ (FNI).Er ist insofern einzigartig, als dass er eine Reihe von Mutter-Kind-Aktivitäten nutzt, die eingesetzt werden, um die gegenseitige emotionale Bindung während des Aufenthalts des Frühgeborenen auf der Neugeborenen-Intensivstation zu stärken: Bereitstellung von Baumwolltüchern, die die Mutter getragen hat; Unterstützung der mütterlichen händischen Berührung des Kindes durch emotionale stimmliche Äußerungen sowie den Blickkontakt mit dem Säugling, wenn dieser in den Brutkasten gelegt wird. Außerdem die Herstellung des Hautkontakts – sobald der Säugling medizinisch stabil ist – oder alternativ des Nicht-Hautkontakts beim Halten in den Armen, währenddessen auch Protokonversationen (Interaktion zwischen Mutter und Baby mit Wörtern, Geräuschen und Gesten) geführt und Blickkontakt hergestellt wird.
In diesen beiden Studien der Hirnforschung durch bildgebende Verfahren, wurden die Kinder, die der Intervention ausgesetzt waren („FNI-Kinder“), mit einer anderen Gruppe verglichen, die die Standard-Inkubator-Pflege („SC-Kinder“) erhalten hatten.
Die Forschergruppe wendete eine Methode namens „Elektroencephalogramm“ („EEG“) an, bei der ein Netz, das mit mehr als hundert Elektroden ausgestattet ist, auf dem Kopf des Kindes platziert wird und die Aktivität des Gehirns erfasst.
In den Studien wurden die Aufzeichnungen der Hirnaktivität des Säuglings zwei verschiedenen Analysen unterzogen. Eine Analyse ergab, dass die FNI-Säuglinge eine signifikant erhöhte frontale Hirnaktivität („EEG-Power“) aufwiesen, was laut anderer Studien eine Verbesserung der neurologischen Verhaltensweisen erwarten lässt.11Die andere Analyse zeigte, dass die Kohärenz bei FNI-Kleinkindern in den gleichen Regionen, in denen die Forschergruppe zuvor einen starken Anstieg der EEG-Leistung festgestellt hatte, abgenommen hatte.Da die Kohärenz mit dem Alter abnimmt, deuten die Ergebnisse darauf hin, dass FNI die Gehirnreifung insbesondere in frontalen Hirnregionen beschleunigen kann. Andere Forschungen hatten bereits aufgezeigt, dass diese an der Regulierung von Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Emotionen beteiligt sind. Bereiche, die Frühgeborenen fehlen.12
Follow-up-Studien unterstützen bisherige Ergebnisse – Körper- und Hautkontakt begünstigt die Hirnentwicklung
Was diese Studien noch interessanter macht, ist, dass die Forschungsgruppe diese Hirnstudien mit bildgebenden Verfahren durch Messungen der kognitiven und Verhaltensentwicklung derselben Kinder im Alter von 18 Monaten ergänzte. Durch dieses Follow-up können wir die Gültigkeit dieser frühen Hirnmessungen noch besser einschätzen.
Und das haben sie herausgefunden: Im Alter von 18 Monaten zeigten Kinder, die nach einer Frühgeburt von der Family-Nurture-Intervention profitierten, signifikant verbesserte kognitive und sprachliche Werte aufwiesen. Diese Kinder hatten auch weniger Aufmerksamkeitsprobleme und zeigten ein geringeres Risiko, an Autismus zu erkranken als die Gruppe, die eine Standard-Inkubatorpflege erhalten hatte.13
Aus diesen Ergebnissen können wir schließen, dass eine Pflege, die emotionale Interaktionen zwischen Müttern und Säuglingen in den Intensivstationen für Neugeborene ermöglicht, der Schlüssel zur Veränderung der Entwicklungsverläufe von Frühgeborenen sein kann. Dies könnte also langfristig verschiedene fundamental wichtige Bereiche der Nervensystementwicklung, der sozialen Verbundenheit sowie der Aufmerksamkeitssteuerung beeinflussen.
Sämtliche Ergebnisse gelten auch fürs Babytragen
Ein Vergleich der einzelnen Komponenten der Family-Nurture-Intervention, die auf Frühgeborene abzielt, mit der Praxis des Tragens von normal ausgetragenen Neugeborenen zeigt, dass praktisch alle FNI-Komponenten auch beim regelmäßigen Babytragen anzutreffen sind. Das über die üblichen 40 Wochen ausgetragene Neugeborene empfängt während des Tragens viele olfaktorische Hinweise (Gerüche) des Elternteils. Aufgrund des Zusammenspiels beim Tragen im engen Körperkontakt, in welchem der Säugling den „ruhigen Aufmerksamkeitszustand“ länger aufrechterhalten kann (also den optimalen Zustand der Neugeborenen für die Aufnahme von Informationen über die Außenwelt) aber auch schon früh soziale Bindungen von seinen Betreuern einfordert,14ist es wahrscheinlicher, dass babytragende Eltern positive emotionale Proto-Konversationen und Blickkontakt mit ihren Kindern suchen. Die Hautkontaktpraxis der Family-Nurture-Intervention ist praktisch identisch mit der Praxis des Babytragens – mit Ausnahme der Isolierung durch die Kleiderbarriere. Wir haben die aktuelle Forschung zu diesem Thema in einem früheren Artikel diskutiert.15
Ist es wahrscheinlich, dass wir ähnlich signifikante Unterschiede der jeweiligen Gehirnentwicklung normal lang ausgetragener Neugeborener die ausgiebig getragen wurden, und solcher Neugeborenen finden würden, die überwiegend in Autositzen, Wippen, Kinderwagen, Krippen usw. abgelegt wurden?
Zunächst finden wir in den relativ wenigen Langzeitstudien mit voll ausgetragenen Neugeborenen mit Hautkontakt tatsächlich signifikante Unterschiede – insbesondere im Hinblick auf ihre soziale Verbundenheit, gemessen anhand der sogenannten „Still-Face-Tests“ oder „Strange-Situation-Tests“.1,2,4,16Wenn die oben beschriebene Beziehung zutrifft, nämlich dass die Qualität des Verhaltens von Säuglingen durch die Aktivitätsmuster des Säuglinghirns vorhergesagt wird, sollten wir in der Lage sein, ähnliche Unterschiede in der Hirnentwicklung von getragenen und nicht-getragenen Neugeborenen zu finden.
Die oben beschriebene FNI-Forschungsgruppe verwendete EEG-Messungen der Hirnaktivität. In den letzten Jahren hat eine Reihe anderer bildgebender Verfahren des Gehirns die Zusammenhänge zwischen der kindlichen Verhaltensentwicklung und der Gehirnentwicklung untersucht.9,17–22Hier scheint es ein reiches und fruchtbares Feld für jene Forschungsgruppen im Bereich der Hirnbildgebung zu geben, die daran interessiert sind, eine potentiell mächtige, leicht umsetzbare und kostengünstige (Behandlungs-)Methode zu testen, die sehr vielversprechend für die Prävention von vielen psychologischen und physiologischen Krankheiten ist, die die Kinder und Jugendlichen von heute betreffen.
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