Chefwissen: Tragen lindert postnatale Depressionen

Es ist ein schweres aber ungemein wichtiges Thema, dem sich unser Chefwissenschaftler Dr. Henrik Norholt aus Kopenhagen im heutigen Expertentipp widmet. Es geht um die Postpartale Depression, auch Postnatale Depression genannt. Viele Mütter leiden unter dieser heimtückischen Krankheit, die sich leise in die eigentlich so schöne Anfangszeit mit Kind einschleicht. Dass man nicht immer sofort zu Medikamenten greifen muss, um eine leichte oder moderate Art dieser Depression zu lindern, ist ein Lichtblick in diesem düsteren Thema. Welches die Alternativen sind, verrät uns der Wissenschaftler, der seit 2001 die Effekte des Babytragens und deren Einfluss auf die Psyche und motorische Entwicklung des Kindes studiert.

 

Wie das Tragen bei einer postpartalen Depression helfen kann

Die Schwangerschaft ist eine sehr intensive Zeit im Leben einer Frau, reich an Emotionen und Visionen, wie das zukünftige Leben als Mutter aussehen wird. Neben der freudigen Erwartung, bald das eigene Kind in den Armen zu halten, machen sich einige der zukünftigen Mütter Sorgen, sie könnten eine postpartale Reaktion oder sogar Depression entwickeln.

Und diese Sorge ist sicherlich nicht unbegründet. Eine postpartale Depression gehört zu den Krankheiten, die Frauen im gebärfähigen Alter am stärksten einschränken können. In den USA ist sie der Hauptgrund für nicht-geburtshilfliche Krankenhausaufenthalte bei Frauen. Eine von fünf Frauen ist davon betroffen.

Und weil es in der Zeit passiert, in der das Neugeborene am verletzlichsten ist und am sensibelsten auf die Stimmungen und das Verhalten der Mutter reagiert, kann eine Depression die Entwicklung des Kindes stark beeinflussen, aber auch die gesamte Familie. Koliken, Schlafprobleme und Verhaltensauffälligkeiten ebenso wie später auftretende geistige Leistungseinschränkungen, Verhaltenshemmungen und emotionale Fehlanpassungen lassen sich mit der postpartalen Depression der Mutter in Verbindung bringen. Auch das frühzeitige Abbrechen des Stillens, kann eine postpartale Depression auslösen.

In diesem Artikel wollen wir daher ein grundlegendes Verständnis für die emotionalen Reaktionen nach der Geburt vermitteln. Außerdem werden wir konkret darauf eingehen, warum der Hautkontakt zwischen Eltern und Kind und damit das Tragen direkt und indirekt zur Linderung einer postpartalen Reaktion beitragen kann. Dieser Zusammenhang wird selten von Depressionsforschern thematisiert und auch auf den üblichen Eltern-Webseiten oder auf Webseiten zu postpartaler Depression gibt es kaum Artikel darüber.

Wie erkenne ich eine postpartale Reaktion?

Zunächst einmal, was sind überhaupt die Anzeichen einer postpartalen Reaktion? Ärzte unterscheiden zwischen dem „Baby-Blues“, der einige Tage aber auch mal zwei Wochen anhalten kann, und der Depression, bei der die Symptome länger anhalten und deutlich schwerwiegender sind.

Zu den Symptomen eines „Baby-Blues“ gehören:

  • Stimmungsschwankungen
  • Angstzustände
  • Traurigkeit
  • Reizbarkeit
  • Überforderung
  • Weinen
  • Konzentrationsverlust
  • Appetitstörungen
  • Schlafstörungen

Zu den Symptomen einer postpartalen Depression können gehören:

  • Depressive Stimmung oder extreme Stimmungsschwankungen
  • Übermäßiges Weinen
  • Bindungsschwierigkeiten mit dem Kind
  • Rückzug von Familie und Freunden
  • Appetitverlust oder übermäßiges Essen
  • Schlaflosigkeit (Insomnia) oder übermäßiges Schlafen
  • Überwältigende Erschöpfung oder Energieverlust
  • Geringeres Interesse oder Spaß an Lieblingsaktivitäten
  • Extreme Reizbarkeit und Wut
  • Angst, keine gute Mutter zu sein
  • Gefühl von Wertlosigkeit, Scham, Schuld oder Unzulänglichkeit
  • Verringerte Fähigkeit, klar zu denken, sich zu konzentrieren oder Entscheidungen zu treffen
  • Starke Angstgefühle und Panikattacken
  • Gedanken, sich oder dem Kind etwas anzutun
  • Wiederkehrende Gedanken über Tod oder Selbstmord

Unbehandelt kann eine postpartale Depression Monate oder sogar noch länger andauern und die gesamte Familie belasten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sehr viel Forschung betrieben wird, um diese Art der Depression zu lindern. Aktuell sind die beiden wichtigsten, medizinisch anerkannten Behandlungswege die Gesprächstherapie (interpersonelle Therapie, Verhaltenstherapie, kognitive Verhaltenstherapie) und die Behandlung mit Medikamenten. Die Einnahme von Medikamenten gegen Depression während des Stillens ist ein kompliziertes und umstrittenes Thema, wenn es um gängige Antidepressiva geht. Darüberhinaus bestehen Zweifel, ob diese bei einer leichteren oder moderaten Depression überhaupt wirken.

Alternative Behandlungsmethoden
Es gibt neue Erkenntnisse, dass Ausdauertraining, also pulserhöhende Übungen, fast genauso gut bei Depressionen helfen wie Medikamente. Allerdings sind diese Erkenntnisse noch nicht weit verbreitet und werden von Medizinern, die auf Depressionen spezialisiert sind, selten angewendet. Die aktuellen Erkenntnisse über unterschiedlichste Formen nichtklinischer, gegenseitiger sozialer Unterstützung sind nicht vollständig erforscht, können jedoch wesentlich zur Genesung einiger Mütter beitragen.

Neben diesen beiden medizinisch anerkannten Behandlungswegen, gibt es eine breite Palette an Stress-Management-Tools, die wissenschaftlich weniger gut erforscht sind. Dazu gehören die Förderung der Entspannungsreaktion, Atmungsübungen, Körperscan, geführte Visualisierungstechniken, Berührungstherapie, Lichttherapie, Akupunktur, Achtsamkeitsmeditation, Yoga, Tai-Chi, Qigong, gesunde Ernährung, soziale Unterstützung und Tagebuchführen.

Eine Depression ist ein komplizierter Zustand und zwar aus verschiedenen Gründen: Zum einen nehmen die wenigsten die Anzeichen einer Depression bewusst wahr. Und selbst wenn die betroffene Person tatsächlich hinter fast alle Symptome einer Depression ein Häkchen machen kann, folgt häufig das Leugnen. Oft hängt das mit dem eigenen Selbstbild zusammen: „Ich bin nicht der Typ für eine Depression. Ich reiße mich einfach zusammen und mache weiter“. Doch leider führt eine solche Einstellung in vielen Fällen erst recht zu einer Depression. Es ist also ein Teufelskreis.

Ein weiterer Grund dafür eine Depression zu leugnen, ist die Sorge darüber, als „geistig gestört“ zu gelten, vor allem mit Blick auf den aktuellen oder zukünftigen Job. Bei einer postnatalen Depression kommt erschwerend hinzu, dass ein Neugeborenes rund um die Uhr Aufmerksamkeit einfordert, die normale Routine durcheinander bringt und zu völliger Erschöpfung führt. Oftmals reagieren die Säuglinge zudem mit Koliken, Schlaf- und Essstörungen negativ auf die Depression der Mutter, was die Situation zusätzlich verschärft.

Einfache Lösung gesucht

Völlige Erschöpfung ist nicht gerade die beste Ausgangsposition für die Suche nach und die Zusammenarbeit mit einem fremden Spezialisten oder Berater für psychische Gesundheit. Selbst gesunde Mütter meiden in der Zeit nach der Geburt häufig den Kontakt zu Familie und Freunden, weil der Prozess des Aufeinandereinstellens zwischen Eltern und Neugeborenem extrem fragil und energieraubend sein kann.

Eine einfache Lösung im Kampf gegen eine postpartale Depression zu finden, das würde vieles erleichtern. Wenn es doch nur einen Weg aus diesem Zustand gäbe, der der Mutter wenig abverlangen würde, keine Fremden beinhaltet, zuhause umgesetzt werden könnte – und das alles noch ganz ohne zugeben zu müssen, dass man depressiv ist…

Eine kürzlich veröffentlichte kanadische Studie schenkt Hoffnung bei dem unter jungen Müttern weit verbreiteten Thema.

In der Studie wurden zwei gering gefährdete Frauengruppen aus der Mittelschicht untersucht. Die eine Gruppe sollte während des ersten Monats nach der Geburt täglich einige Stunden Körperkontakt zu ihrem Neugeborenen aufnehmen (was sie auch taten). Der anderen Gruppe wurde kein solcher Vorschlag gemacht und es stellte sich heraus, dass diese Mütter während des ersten Monats tatsächlich wenig oder gar keinen Körperkontakt aufnahmen. In beiden Gruppen konnten Symptome einer Depression in der 1. Woche und nach ein, zwei und drei Monaten festgestellt werden.

Die Mütter, die jeden Tag Körperkontakt mit ihrem Neugeborenen pflegten, wiesen allerdings wesentlich niedrigere Werte auf der Depressionsskala auf (waren also weniger depressiv) als der Säugling etwa eine Woche alt war und noch niedrigere Werte nach einem Monat. In den Monaten zwei und drei, in denen die Depressionssymptome in beiden Gruppen sehr niedrig waren, ließen sich keine Unterschiede mehr feststellen. Die Werte bei den Symptomen einer Depression lagen für die meisten Mütter beider Gruppen unterhalb der Risikogrenze. Einige Frauen wiesen allerdings Werte im Risikobereich auf und litten auch deutlich mehr. Diese Mütter gehörten alle zu der Kontrollgruppe ohne intensiven Körperkontakt.

Ein Blick auf einen der physiologischen Stressmarker, das Cortisolniveau im morgendlichen Speichel, hat gezeigt, dass die Hautkontakt-Mütter während des ersten Monats nach der Geburt einen größeren Rückgang ihres Speichelcortisol aufwiesen, als die Mütter in der Kontrollgruppe.

Diese Studie ist die erste überhaupt, die die Wirkung von Hautkontakt zwischen Mutter und Kind auf Depressionssymptome über mehrere Monate hinweg untersucht hat und gibt uns damit wichtige Einblicke und Inspiration.

 

Bewegung und frische Luft vs. Antidepressiva
Haben Mütter erst einmal die Vorteile des engen Körperkontakts erlebt, werden sie sich nur zu gerne auf das Tragen mit Tragetuch oder Babytrage einlassen. Das ermöglicht der Mutter, ihren Alltagsbeschäftigungen nachzugehen und gleichzeitig die Nähe zum Baby zu spüren. So versorgt sie ganz nebenbei ihr Baby – und sich selbst – mit einer Vielzahl von lebensnotwendigen und altersgemäßen Stimuli.

Wird das Babytragen mit einem flotten Morgenspaziergang kombiniert, verstärkt die sportliche Betätigung und das Tageslicht die Wirkung sogar noch. Interessanterweise hat man festgestellt, dass sowohl Lichttherapie (Exposition mit Sonnenlicht oder sonnenähnlichen elektrischen Quellen) als auch sportliche Aktivität, effektiver sind als gängige Antidepressiva. Unterschätzen Sie also nicht die Kraft von Sonne und frischer Luft.

Nach und nach die gesellschaftliche Isolation in Form von morgendlichen Spaziergängen zu durchbrechen, kann zudem zu dem Wunsch führen, andere Mütter zu treffen, um sich mit ihnen über die Freuden und Schwierigkeiten des Mutterseins auszutauschen. Wenn keine Ihrer Freundinnen zur gleichen Zeit wie Sie Mutter geworden ist, haben Sie immer noch die Möglichkeit, sich einer der zahlreichen Babytrage-Gruppen anzuschließen, die überall aus dem Boden sprießen. Diese Gruppen veranstalten regelmäßig offene Treffen in Cafés oder einer Einrichtung in Ihrer Nähe. Hier entstehen immer wieder inspirierende Freundschaften.

Sollte es keine Babytrage-Gruppe in der Nähe geben, gründen Sie doch einfach eine. Erkundigen Sie sich dazu bei Babywearing International auf http://babywearinginternational.org/. Oder schließen Sie sich einer Mama-Sportgruppe an. Auch hier bei uns im Blog haben wir diverse Sporttipps mit Babytrage an der frischen Luft zusammengestellt, z.B. https://ergobaby.de/blog/tag/fit-mit-baby/. Auch sinnvoll: sich eine kleine Auszeit über Yoga zu gönnen: https://ergobaby.de/blog/tag/yoga-mit-babytrage/.

Forscher bestätigen außerdem ganz offiziell die positive Wirkung, die sowohl das Empfangen als auch das Geben gesellschaftlicher Unterstützung in Form eines Ehrenamts mit sich bringt.

Sie werden sehen: diese einfachen Schritte tragen garantiert dazu bei, eine leichte oder moderate Depressionen zu lindern.

 

Quellen:

http://www.babycenter.com/0_drug-safety-while-breastfeeding_8790.bc
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