Immer wieder predigen wir es: Tragen fördert die Bindung zwischen Eltern und Kind. Und das ist ja auch wirklich so. Doch was genau steckt eigentlich hinter dieser Behauptung? Die Antworten auf diese Frage hat unsere Trageberaterin Mieke. In unserem heutigen Expertentipp des Monats lässt sie uns – wie immer gerne – an ihrem Wissen teilhaben.
Unter Bindung versteht man ein lang andauerndes, affektives Band zu ganz bestimmten Personen. Diese sind nicht ohne weiteres auswechselbar. Ihre körperliche und psychische Nähe und Unterstützung suchen wir, wenn wir z.B. Furcht, Trauer, Verunsicherung oder Krankheit in einem Ausmaß erleben, das wir nicht mehr selbstständig regulieren können. Der Begriff Bindung beschreibt also im Normalfall die enge und überdauernde emotionale Beziehung von Kindern zu ihren Eltern.
Die Anfänge dieser Eltern-Kind-Bindung liegen bereits in der Schwangerschaft und der Geburt. Die Stimme der Mutter und ihren Herzschlag kann das Baby am klarsten von allen Geräuschen wahrnehmen und das Fruchtwasser schmeckt so wie die Mutter riecht. Ein Neugeborenes erkennt daher seine Mutter unmittelbar nach der Geburt und fühlt sich bei ihr geborgen. Aber auch Väter werden dadurch, dass sie an der Schwangerschaft teilhaben und den Geburtsprozesses miterleben, berührt. Dieser Zeitpunkt ist der, an dem auch für Väter der Aufbau von Bindungsgefühlen zum Kind beginnt.
Eine Bindung muss wachsen – ein Leben lang
Sehr bald nach der Geburt sucht das Baby die Brust der Mutter und nimmt Augenkontakt mit ihr auf. Hebammen berichten in diesem Zusammenhang, dass das Baby in diesem Moment ganz glänzende Augen und einen intensiven, eindringlichen Blick bekommt. Reagiert die Mutter (oder der Vater) auf diesen suchenden Blick, weiß das Baby: hier ist jemand, der auf mich reagiert.
Und egal, ob es sich um eine reibungslose Geburt handelt oder ob die Geburt unter nicht so optimalen Voraussetzungen stattfindet und dieses erste Bindungsfenster nicht in dem Maße genutzt werden kann, letzten Endes gilt: Eine sichere und stabile Eltern-Kind-Beziehung muss wachsen und entsteht aus der alltäglichen Interaktion zwischen Eltern und Baby.
Je zuverlässiger eine Bezugsperson auf die Signale des Kindes sofort (also innerhalb weniger Sekunden) reagiert, die Signale richtig interpretiert und angemessen darauf reagiert, desto sicherer fühlt es sich. Babys geben beispielsweise nach dem Aufwachen einen „Kontaktruf“ von sich. Reagieren Mama oder Papa intuitiv darauf, wiederholt das Kind diesen Ruf nicht mehr, weil es sich geborgen fühlt und weiß, es ist jemand da, der mich beschützt.
Das Bindungssystem, das sich im Laufe des ersten Lebensjahres entwickelt, bleibt ohne Intervention in der Regel das gesamte Leben lang aktiv. Eltern, die als Kind selber eine gestörte Bindung zu ihren Eltern hatten, haben daher oft Probleme, eine sichere Bindung zu ihrem Baby aufzubauen. Ein liebender Partner, der selbst eine sichere Bindung erfahren hat, kann hier so viel Kraft und Zuversicht schenken, dass dennoch eine sichere Bindung gelingen kann. Aber auch Hilfe von außen kann einen dabei unterstützen, den Kreislauf der Bindungsstörungen zu unterbrechen. Ansprechpartner sind hier Familienhebammen und die Bundesinitiative Frühe Hilfen.
Bindung weckt Neugier
Insgesamt unterscheidet man vier wesentliche Formen der Bindung: Sicher gebunden (Kinder suchen Nähe von Mutter/Vater, lassen sich trösten, benutzen Mutter/Vater als sichere Basis), unsicher-vermeidend gebunden (Kinder zeigen keine deutliche Trennungsreaktion, ignorieren die Mutter bei Wiederkehr und vermeiden Nähe und Kontakt), unsicher-ambivalent gebunden (Kinder sind ängstlich, zeigen starke Trennungsreaktionen, lassen sich bei Wiederkehr der Mutter kaum beruhigen und zeigen ambivalentes Verhalten) und unsicher-desorientiert gebunden (widersprüchliche Verhaltensmuster, unterbrochene oder stereotype Bewegungen). 50 Prozent aller Kinder sind sicher gebunden, 80% der Kinder mit Gewalt- oder Missbrauchserfahrungen sind unsicher-desorientiert gebunden. Kinder psychisch kranker Eltern und auch fremd untergebrachte Kinder sind selten sicher gebunden.
Eine sichere Bindung ist einfach der beste Start ins Leben, denn sichere Bindungen schützen in der Kindheitsphase und auch später noch als Erwachsener besser vor psychischen Krisen und den sozialen Anforderungen des Lebens. Neue Studien sehen aber nicht nur einen Zusammenhang zwischen Bindungsqualität und emotionalen und psychosozialen Auswirkungen, sondern auch zwischen der Qualität der Bindung und Gehirnwachstum sowie Sprachentwicklung und Schulerfolg.
Ein Kind, das sich sicher und geborgen fühlt, kann seine Umwelt erforschen. Wenn die Grundbedürfnisse des Kindes nach Bindung und Sicherheit nicht erfüllt sind, kann kaum Neugier aufs Lernen entstehen. Fachleute bezeichnen dies als Dialektik von Bindung und Exploration und sehen hier eine Ursache für die oft wesentlichen Entwicklungsdefizite vernachlässigter Kinder.
Sicher gebundene Kinder bekommen bei ihren Erkundungsgängen mehr individuelle sprachliche Anregung, weil sie die Bindungsperson mehr nutzen und ihnen „ein Loch in den Bauch fragen“. Keine oder monotone Reaktionen behindern eine günstige Entwicklung. Aus diesem Grund sollten Eltern daher öfter mal das Handy weg legen und sich ganz auf das Kind und sein Spiel konzentrieren.
Kinder zeigen schon sehr früh ein Interesse daran, ihre Erfahrungen mit den Bezugspersonen zu teilen. Über die Resonanz der Erwachsenen erhalten sie wichtige Impulse für ihre Entwicklung. In gemeinsamen Lernsituationen und auf Entdeckungstouren werden Kinder und ihre Bindungsperson zu sogenannten Explorationsverbündeten bzw. zu gemeinsamen Entdeckern von Wissen und Wirklichkeit. Professor Dr. Gerd E. Schäfer schrieb dazu schon 2008: „Damit Erfahrungen bewusst werden und denkend genutzt werden können, braucht das Kind Menschen, die auf seine Erfahrungen eingehen, sie auf unterschiedliche Weise spiegeln und sie schließlich auch in Worte fassen. Daraus ergibt sich, dass kleine Kinder für ihre Bildungsprozesse vertraute Menschen benötigen, die ihre frühen Erfahrungen mit ihnen teilen.“
Bindung als Entwicklungsfaktor
Auch die Hirnforschung zeigt, dass sich frühe emotionale Erfahrungen nachhaltig auf den Strukturaufbau des Gehirns und damit auf die Entwicklung des Kindes auswirken. Konkret hilft die Zuwendung – also Körperkontakt und Beruhigung durch Bindungspersonen – den Babys bei der Stressregulierung. Und die so gemachten Erfahrungen der Regulation unterstützen dann letztlich den Aufbau neuronaler Netzwerke, die den Kindern später zur emotionalen Selbstregulation dienen.
Sicher gebundene Kinder haben ein hohes Urvertrauen und ein starkes Selbstwertgefühl. Das hilft ihnen ihr Leben lang, mit anderen Menschen sozial kompetent umzugehen, gute Beziehungen zu Freunden und Kollegen aufzubauen und in tragfähigen, positiven Partnerschaften zu leben. Es fällt ihnen leicht, Beziehungen zu Lehrern aufzubauen und deren Bildungsangebot anzunehmen und später dann auch die eigenen Kinder sicher gebunden aufwachsen zu lassen.
Unmittelbare Nähe durch Babytragen
Die Babytrage ist hier ein simples Mittel, den Bindungsaufbau zu fördern. Wird das Neugeborene von der Mama getragen, entsprechen der Gang und die typischen Bewegungen dem Schaukeln in der Gebärmutter. Auch die Stimme und der Geruch sind dem Baby bereits bestens vertraut und es fühlt sich sicher und geborgen. Doch auch für den Papa kann das Tragen den Bindungsaufbau erleichtern. Denn während das Stillen nicht von ihm übernommen werden kann, bietet das Tragen eine Möglichkeit, die Mama im Wochenbett zu entlasten und gleichzeitig dem Baby ganz nah zu sein, seine Grundbedürfnisse zu erfüllen und es kennenzulernen.
Die unmittelbare Nähe erleichtert die prompte Reaktion auf die kindlichen Bedürfnisse und die chemischen Reaktionen fördern die Bindung ebenfalls. Wird ein Baby von Geburt an regelmäßig getragen, empfindet es die Babytrage als Schutzraum, in dem es sich leichter beruhigen kann. Die Berührungen beim Tragen führen zudem bei den Eltern zu einem hohen Tonus des Vagusnervs, dem Hauptnerv des Parasympathikus – was wiederum die Bindungsbereitschaft steigert.
Wenn das Kind älter ist, bietet das Tragen darüberhinaus eine tolle Gelegenheit zur Interaktion bei gemeinsamen Entdeckungstouren – auch ganz nebenbei, wenn der Ritt auf Mamas oder Papas Rücken vielleicht gerade nur Mittel zum Zweck ist, um von A nach B zu kommen. Auf dem Weg gibt es sicherlich ganz viele spannende Dinge zu sehen und erleben, die miteinander geteilt werden können. Und sollten die Kinderbeinchen nach dem Ausflug in den Wald einmal müde werden, ist die Trage der sichere Hafen, von dem aus die Erlebnisse noch einmal gemeinsam verarbeitet und durchlebt werden können.