KISS – zunächst hört sich dieses Wort ja recht
merkwürdig an. Aber was genau ist eigentlich KISS? Und was hat diese
Entwicklungsauffälligkeit im Säuglings- und Kleinkindalter in der Trageberatung
zu suchen? Auf diese Fragen möchten wir in diesem Blogartikel Antworten geben.
Aber bevor wir zur näheren Definition kommen, werfen wir einen Blick auf die
geschichtliche Entwicklung, die hinter diesem Begriff steckt.
Schon die alten Ägypter kannten die Prinzipien der Chirotherapie und die damit verbundenen Krankheitsbilder. Später, etwa 1728, machte dann der Pariser Chirurg Nicolas Andry auf die Zusammenhänge zwischen geburtsmechanischen Problemen und daraus resultierenden Haltungsschäden aufmerksam. Im Laufe der Zeit therapierten Mediziner dann sog. Schiefhalskinder mit der Durchtrennung des Halsmuskels Sternokleidomastoideus oder mit der Einspannung in bestimmte Vorrichtungen, um Fehlhaltungen zu korrigieren. Weiter wurden dann Fehlhaltungen von Säuglingen mit „Säuglingsskoliose“ oder „Schräglagedeformität“ beschrieben. Bis irgendwann dann die Manualmedizin auf dieses Thema aufmerksam wurden und Gutmann in den 1950er und 1960er Jahren von seinen Beobachtungen berichtete. Diese fanden zum damaligen Zeitpunkt allerdings noch wenig Beachtung (1).
Erst als der Chirurg und Manualtherapeut Heiner
Biedermann 1984 zunächst seine Erfahrungen als „zervikal-dienzephal-kinesiologisches
Syndrom“ und später dann mit der Abkürzung KISS („Kopfgelenkinduzierte
Symmetriestörung“) veröffentlichte, trat die obere Halswirbelsäule als
Verursacher von Haltungsauffälligkeiten in den Vordergrund. Wir reden hier von
Beschwerden bei Kleinkindern, die durch schmerzhafte Verspannungen des oberen
Halses ausgelöst werden. Es kommt zu Blockierungen der Wirbelgelenke durch eine
Reizung der Muskulatur, Bänder, Nerven etc (2).
Die obere Halswirbelsäule als Steuerungsebene
Warum hat die Halswirbelsäule auf die Haltung des Kindes eine so große Auswirkung? Der Allgemeinmediziner und Manualtherapeut Dr. Robby Sacher sagt dazu: „Das Erlernen und Abspeichern von zielgerichteter Bewegung sowie die Durchsetzung von Bewegung und Haltung gegen die Schwerkraft ist ein wesentlicher Aspekt der sensomotorischen Kindesentwicklung. Der obere Halswirbelsäulenbereich ist für die Bereiche „Bewegung“ und „Koordination“ tatsächlich eine wichtige Steuerungsebene, das heißt neben einer Schutz-, Halte-, Bewegungs-, und Stützfunktion hat er zusätzlich die Aufgabe, Informationen wahrzunehmen. Ist diese Steuerungsebene funktionell gestört, liegt mehr als nur eine Auffälligkeit vor.“ (3)
Schauen wir uns dahingehend einmal die zwei Formen von KISS – KISS I und KISS II – im Schnellüberblick nach Dr. Robby Sacher (3) an:
1. Mögliche Symptome bei KISS I
- „Schiefhals“ mit einseitiger Einschränkung der Kopfbeweglichkeit
- Fixierte Rumpffehlhaltung zu einer Seite (C-Skoliose)
- Halbseitige Gesichtsmikrosomie (eine Gesichtshälfte ist kleiner)
- Pofaltenasymmetrie mit einseitiger Hüftreifungsverzögerung
- Einseitiger Sichelfuß
- Mindermotorik einer Körperseite (v.a. des Armes)
- Tonusasymmetrien der Muskulatur
- Einseitiges Fäusteln beim Aufstützen
- Einseitige Stillprobleme
- Einseitige Abplattung des Hinterkopfes (durch das Schauen in eine Richtung)
2. Mögliche Symptome bei KISS II
- Abplattung des Hinterkopfes mittig
- Verweigerung der Bauchlage, Kopfhalteschwäche
- Vermehrtes Sabbern/Spucken
- Schluckstörungen und Stillprobleme
- Henkelstellung der Hände und/oder hochgezogene Schultern
- Motorische Entwicklungsverzögerung bezüglich der Vertikalisierung
- Neigung zu hypotonem Grundtonus der Muskulatur
- Dreimonatskoliken
- Nackenüberempfindlichkeit
- Schreiattacken
- Ein- und Durchschlafstörungen
- Aber auch ruhige Kinder, die bewegungsfaul sind, mit motorischen Entwicklungsrückständen
- Flitzebogenhaltung, Verweigerung der Bauchlage -> Probleme bei der Aufrichtung (kein Robben, kein Krabbeln -> Kompensation z.B. durch Porutschen)
- Später dann Gleichgewichtsprobleme, Koordinationsstörungen, Haltungsstörungen und Kopfschmerzen
Insgesamt sind die Kinder mit Haltungsauffälligkeiten aber oft nicht nur einem Symptombild zuzuordnen, sondern haben von beidem etwas.
Ursachen für KISS
Die Frage, die sich jetzt natürlich stellt,
ist: Was ist die Ursache? Generell können Ursachen in drei unterschiedlichen Bereichen
genannt werden:
- Intrauterine Zwangslagen (z.B. durch Platzmangel,
Uterusanomalien, Quer- und Beckenendlagen) (1) - Geburtstraumen (die Geburt ist eine sowieso
schon sehr gewaltige Angelegenheit: auf den Kopf wirken massive Kräfte, die
Halsmuskulatur wird massiv gedehnt und der Schultergürtel gezerrt (2), wenn
dann noch Eingriffe wie z.B. der Kristeller-Handgriff, ein Wehentropf, die
Einleitung, ein großes Geburtsgewicht, ein enges Becken, eine schnelle oder
sehr lange Geburtsdauer bzw. Austreibungsphase oder vaginal operative
Entbindungen/Sectio hinzukommen, kann sich dies entsprechend auf die HWS
auswirken. - Traumen nach der Geburt (z.B. Operationen,
Infekte, Beatmungen, Frühgeborene) (1)
Aber zu welchem Zeitpunkt treten dann, je
nach Ursache, Entwicklungsauffälligkeiten auf? Dies ist in der Tat
unterschiedlich. Bei Zwangslagen wird man schon direkt nach der Geburt etwas
sehen, bei Geburtstraumen kommt es zu einer Verletzung der oberen Halswirbelsäule,
was zu Schmerzen führt und dies wiederum eine Schonhaltung zur Folge hat.
Meistens wird das dann erst nach 4-6 Wochen sichtbar (2). Traumen nach der
Geburt liegen meistens vor dem dritten Monat und die Kinder entwickeln ihre Asymmetrie
spät bis etwa zur 12. Lebenswoche (1). Die Entwicklung einer KISS-Problematik
nach dem 3. Monat ist selten und kommt dann eigentlich nur bei Frühgeburten
vor. Auch kommt es nach drei Monaten zu einer zunehmenden Kopfkontrolle, was
einen zusätzlichen Schutz für die Halsstrukturen darstellt (1).
KISS in der Trageberatung
Bei einer Trageberatung oder
Wochenbettbetreuung habt ihr in der Regel in diesen Phasen engen Kontakt zu den
Babys und Kleinkindern. Daher solltet ihr wachsam sein und in eurem Arbeitsumfeld
die Haltungsauffälligkeiten und die oben angeführten Symptome immer im
Hinterkopf haben. Dabei sei aber gesagt, dass nicht jedes Kind, das schreit,
KISS hat. Genauso wenig muss jedes Kind mit KISS zwangsweise schreien. Achtet
darauf, dass die Eltern in jedem Fall alle Vorsorgeuntersuchungen (U-Heft)
wahrnehmen und auch selbst auf Auffälligkeiten bei ihrem Kind achten.
Ist das Verhalten bzw. die Entwicklung des
Babys oder Kleinkindes auffällig, gibt es verschiedene Ansprechpartner. An
oberster Stelle steht definitiv der betreuende Kinderarzt, der das Problem aber
nicht beheben kann. Er sollte bei Auffälligkeiten an einen kompetenten Osteopathen/Kinderorthopäden/Spezialisten
weiterleiten. Manchmal reicht hier eine Behandlung ggf. in Kombination mit
Physiotherapie schon aus. Sollte dies nicht der Fall sein, hilft nur noch der
Manualtherapeut. Weitere Informationen findet ihr bei der Deutschen
Gesellschaft für Manuelle Medizin e.V.
Generell ist es jedoch wichtig, die Kinder im ersten Lebensjahr zu behandeln, da sich eingeschlichene Fehler noch einfacher korrigieren lassen. Ideal ist eine Vorstellung beim Manualtherapeuten zwischen dem 4.-6. Monat. Gründe für eine Behandlung vor dem 4. Monat können z.B. Schreikinder, extreme Hinterhauptabplattungen und Schluck-, Still- und Saugprobleme sein. Die Behandlung an sich ist natürlich in jeder Altersklasse sinnvoll (1).
Gerade auch für Eltern mit KISS-Kindern ist zudem
eine kompetente Trageberatung empfehlenswert. Laut Dr. Robby Sacher dürfen
Kinder mit KISS getragen werden, ob behandelt oder nicht, weil (3):
- Tragen
die Fähigkeiten der Bewegung und Koordination unterstützt - Tragen
sich in Hinblick auf die Integration von angeborenen Reflexen (Moro, ATNR)
therapieunterstützend wirkt – gerne auch in der Hüfttrageweise (persistierender
ATNR), da es den Aufbau des Muskeltonus unterstützt, beide Körperhälften
stimuliert und die Hirnhälften miteinander vernetzt. Außerdem können sich
Eltern und Kind dabei anschauen - wechselseitiges
Tragen auf der Hüfte bei hypotonen Kindern den Muskeltonus generell hebt - Tragen
die Hüftreifung unterstützt, die manchmal auch verzögert sein kann
Wichtig in der Beratung ist es daher, auf folgende
Dinge zu achten bzw. diese hervorzuheben:
- Das
Tragetuch muss gut gebunden (3) bzw. die Tragehilfe ergonomisch sein (der
Rücken sollte grundsätzlich adäquat in der altersentsprechenden natürlichen
Haltung gestützt sein). - Der
Kopf/Nacken sollte gut gestützt sein (3) und die Stütze sollte hier keinen
punktuellen Druck ausüben, sondern flächig unterstützen (gerne auch Hilfsmittel
wie z.B. ein Moltontuch einsetzen). - Je nach
Alter sollte das Kind genug sehen können, damit es nicht den Kopf ständig nach
hinten „wirft“ und sich verbiegt. Dann eher von der Bauchtrageweise auf die
Hüft- oder Rückentrageweise wechseln. - Trageposition
und -hilfe individuell und altersentsprechend auswählen und anpassen, ggf. mit
behandelndem Therapeuten/Arzt absprechen. - Sollte
es nach einer Behandlung immer noch Auffälligkeiten geben, lieber das Kind
einmal zu viel als einmal zu wenig zu einem Spezialisten schicken.
Quellen:
(1): Handbuch KISS/KIDDs, Robby Sacher, vml Verlag, 2007
(2): Kiss-Kinder, Heiner Biedermann, Thieme, 2001
(3): Tagungsband Dresdner TrageTage, 2009, Dr. Robby Sacher: Kiss und Tragen- eine Frage der Perspektive