Es gibt sie, diese
Babys, die besonders viel Aufmerksamkeit benötigen. Die sich nicht ablegen
lassen, die nicht mit Trennung klarkommen oder ihren Eltern wirklich so gar
keine Pause gönnen. Und genau denen begegnen Trageberater*innen und Hebammen in
ihrem Alltag auch. Damit sie wissen, worauf sie in diesen Beratungen achten
sollten, widmet sich unsere Trageexpertin Katrin in ihrem heutigen Blogbeitrag
genau dieser Gruppe von Babys.
Welche/r
Trageberater*in kennt das nicht? Auf die Frage, warum die Eltern eine
Trageberatung wünschen, hört man oft schon unter Tränen die Antwort: „Mein Baby
weint und fordert so viel und will nur getragen werden. Ich weiß nicht mehr,
was ich tun soll. Wir brauchen dringend eine Tragehilfe.“
Der/die Trageberater*in kommt damit in eine Beratungssituation, die er/sie auf den ersten Blick gar nicht komplett einordnen und überschauen kann. Zunächst ist da nur eins, die Verzweiflung und Überforderung der Mutter bzw. der Eltern. Jetzt gilt es, sich im Gespräch langsam vorzutasten und herauszufinden, wie man die Eltern am besten unterstützen kann. Wie kann er/sie das am besten tun? Dafür möchte ich an dieser Stelle zunächst einmal aufklären, was genau hinter dem Begriff „High Need Baby“ eigentlich steckt.
Was
ist ein High Need Baby?
Menschen
sind immer individuell und ein „Normal“ gibt es nicht. Jedes Temperament ist
anders. Es gibt aber Babys, die einen besonders fordern und damit besonders
anstrengend sind – so genannte High Need Babys, zu deutsch hochbedürftige
Kinder.
Der amerikanische Kinderarzt William Sears und seine Frau Marta Sears, Krankenschwester und Stillberaterin, haben nach eigener Erfahrung mit einem ihrer Kinder den Begriff High Need Baby eingeführt. Dabei haben sie zwölf Merkmale benannt, die bei diesen Babys besonders ausgeprägt sind:
- Intense
(Intensiv): Diese Babys äußern mit Nachdruck laut und ausdauernd, dass sie
starke Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit und Nähe haben. - Hyperactive
(hyperaktiv): Das Baby ist außergewöhnlich aktiv und immer in Bewegung. Es
zeichnet sich außerdem durch eine hohe Körperspannung aus. - Draining
(auslaugend): Die Eltern sind sehr belastet und das Baby nimmt sich, was es
braucht. Es saugt die Eltern aus. - Feeds
frequently (verlangt ständig nach Nahrung): Das Baby verlangt ständig die Brust
oder Flasche, dies dient nicht nur der Befriedigung des Hungergefühls, sondern
tröstet auch und bietet Aufmerksamkeit und Körpernähe. - Demanding
(anspruchsvoll): Das Baby fordert ein und befiehlt die sofortige
Bedürfnisbefriedigung. - Awakens
frequently (erwacht viel): Diese Babys schlafen nicht allein, halten die Eltern
nachts auf Trab und brauchen wenig Schlaf. - Unsatisfied
(unbefriedigt): Das Baby kann kaum zufriedengestellt werden, die Eltern haben
oft das Gefühl nicht ausreichend die Bedürfnisse des Babys befriedigen zu können. - Unpredictable
(unvorhersehbar): Jeder Tag ist anders und nicht kalkulierbar, was heute
funktioniert hat, kann morgen schon falsch sein. - Super-sensitive
(hoch empfindsam): Kleinste Kleinigkeiten können das Baby aus der Bahn werfen,
es erschrickt schnell, eine unbekannte Umgebung beeinflusst es negativ. - Can´t
put Baby down (lässt sich nicht ablegen): Tragen vermittelt Nähe und
Geborgenheit und hier fühlt sich dieses Baby am wohlsten, es protestiert
lauthals, wenn es abgelegt wird. - Not
a self-soother (kann sich nicht selbst beruhigen): Es lässt sich durch
Schnuller, Musik und Kuscheltiere nicht ablenken und beruhigen, es findet nur
in den Schlaf, wenn eine Bezugsperson sich kümmert. - Seperation
sensitive (reagiert bei Trennung sensibel): Die Bezugsperson ist das Wichtigste
und das Baby reagiert äußerst stark bei Trennung.
Mit
Hilfe dieser Liste haben sowohl Eltern als auch Berater*innen mehrere
Anhaltspunkte zur Hand, um sich ein erstes Bild von der Familie und dem Baby zu
machen und aufmerksam für diese besondere Situation zu sein.
Eines
sollte dabei aber immer klar sein: High Need Babys haben High Need Eltern! Diese
Eltern sind überfordert, am Rande ihrer Kräfte, ausgelaugt und verzweifelt und
haben wahrscheinlich schon viele verschiedene Menschen um Rat gefragt. Oftmals ergeben
sich daraus Meinungen und Empfehlungen, die nicht kongruent sind. Und genau das
löst auch wieder Verzweiflung und Hilflosigkeit aus.
Was kann der/die
Trageberater*in oder die Hebamme tun?
Zunächst
solltet ihr vorab und auch noch einmal vor Ort klar definieren, was euer
Beratungsauftrag ist. Ihr seid vermutlich kein*e Psycholog*in. Euer Fokus liegt
allein auf der Auswahl der passenden Tragehilfe. Und auch diese muss nicht zwangsläufig
die Lösung des Problems sein.
Seid ihr in der Beratungssituation, ist es ungemein wichtig, die Familie in der Beratung ankommen zu lassen. Gebt der Familie Zeit, die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu äußern. Erst einmal ist nur Zuhören angesagt. Dabei solltet ihr selbst entspannt sein und Ruhe und Empathie ausstrahlen. Denn gestresst und angespannt ist die hilfesuchende Familie vor euch ja ohnehin schon. Gerne könnt ihr den Beratungstermin auch auf mehrere Termine verteilen, wenn ihr das Gefühl habt, dass das die Situation noch weiter entspannen könnte.
Versucht
wahrzunehmen, ob die Mutter bzw. die Eltern überhaupt aufnahmebereit sind. Wenn
nicht, könnt ihr die Situation durch Verständnis und Anerkennung erst einmal
beruhigen. Das kann die Eltern schonmal sehr entlasten.
Grundsätzlich
gilt: Ihr seid der Ruhepol, der Sicherheit ausstrahlt. Nur so kann die Familie
von der Beratung profitieren und dem Tragen als möglichem Lösungsansatz offen
begegnen.
Darüber hinaus könnt ihr in der Beratung auch andere Ursachenfelder fürs Schreien und dieses explizite High-Need-Verhalten ansprechen. Verweist dabei auch auf entsprechende Beratungsstellen und Expert*innen oder schickt die Familie gegebenenfalls direkt weiter. Folgende Ursachen könnte das auffällige Verhalten des Nachwuchses auch haben:
- Medizinische Gründe: Abklärung durch Kinderarzt/-ärztin, Fachärzte, Psychologen und Hebamme
- Kulturelle Gründe: Wie verhalten sich die Eltern? Welchen Einflüssen ist das Baby ausgesetzt?
- Soziale und psychische Gründe der Eltern: Gibt es Umstände, Krankheiten und Belastungen in der Familie? Wochenbettdepression?
- Psychische Probleme des Kindes
Es
ist wichtig, dass ihr die Eltern immer dort „abholt“, wo sie gerade stehen. Das
bedeutet, die Informationen, Erkenntnisse und Ratschläge sollten die Eltern
niemals überfordern.
Wieviel
Nähe halten die Beteiligten überhaupt zusammen aus? Auch hier ist jeder
individuell und empfindet die intensive Nähe, die beim Tragen entsteht, ganz
unterschiedlich. Als Berater*in solltet ihr die Eltern und vor allem die Mutter
deshalb ganz genau beobachten. Ist die Mutter eventuell ambivalent? Möchte sie vielleicht
alles perfekt machen und fühlt sich dadurch vielleicht sogar indirekt gezwungen
zu tragen – obwohl sie die Nähe eigentlich gar nicht erträgt?
Während der Beratung solltet ihr das Baby zudem unbedingt bei den Eltern lassen. Denn nichts ist in diesem Fall schlimmer als eine Situation, in der das Kind auf dem Arm der/des Trageberaterin/Trageberaters oder der Hebamme plötzlich nicht mehr weint. Das verbessert die Situation absolut nicht, sondern kann sogar Versagensgefühle bei den Eltern auslösen.
Weniger
ist mehr. Das gilt vor allem für die Theorie zum Babytragen. Überfrachtet die
Eltern nicht damit, das kann genauso überfordernd sein. Die Eltern haben schon
genug im Kopf. Deshalb solltet ihr auch bei den Tragehilfen eine Vorauswahl
treffen. Besser ihr entscheidet euch – unter Berücksichtigung der Wünsche der
Eltern und deren Situation – für ein, maximal zwei Tragehilfen und bietet diese
der Familie an. Macht es ihnen so leicht wie möglich. Dabei solltet ihr
Tragehilfen wählen, die sich besonders schnell und einfach anlegen lassen und
eben die Umstände der betroffenen Familie berücksichtigen.
Beim
Anlegen und Einstellen der Tragehilfe heißt es dann wieder: den Eltern Zeit
lassen. Lasst sie in der neuen Situation ankommen. Lasst sie sich mit dieser
neuen Nähe in Ruhe auseinandersetzen, so dass sie lernen können diese auszuhalten.
Sobald die Mutter dafür empfänglich ist, stärkt ihr Körpergefühl, atmet
gemeinsam mit ihr in den Bauch, sprecht über die aktuelle Körperhaltung und
verbessert sie gegebenenfalls. Macht ihr klar, dass es dem Kind gut geht, wenn
es ihr selbst gut geht.
Apropos
gut gehen: Egal, wie schwierig die Situation auch sein mag und wie sehr ihr
euch einbringt, bleibt bei euch und sorgt gut für euch und euren Körper.
Distanziert euch emotional von dem, was ihr in der Beratung möglicherweise
miterlebt. Nur so könnt ihr die starke Stütze sein, die ihr sein möchtet. Und
wenn alles nur in minikleinen Schritten vorangeht und ihr die Familie nicht
überfordern möchtet, denkt daran: einfach einen weiteren Beratungstermin
vereinbaren. Je nachdem, in welcher Situation sich die Familie gerade befindet,
ist diese Trageberatung und die Auseinandersetzung mit den dazugehörigen Themen
eine intensive Erfahrung für alle Beteiligten.