Stillprobleme vermeiden (Teil 1): Die erste Stunde nach der Geburt ist entscheidend

Ihr erwartet ein Baby und möchtet auf jeden Fall stillen? Dann ist dieser Beitrag genau der Richtige für euch. Denn viele Stillprobleme im frühen Wochenbett sind vermeidbar, wenn man ein paar wichtige Dinge beachtet. Im letzten Jahr haben wir uns schon einmal angeschaut, wie ein optimaler Stillstart gelingen kann. Da die erste Stunde nach der Geburt der wichtigste Grundstein für einen erfolgreichen Stillstart ist, möchten wir uns aber heute die neun Phasen der Anpassung eines Neugeborenen genauer anschauen. Worauf ihr und die betreuenden Hebammen achten solltet, erklärt euch wieder unsere Hebamme und Trageexpertin Katrin Ritter.

Die neun Phasen der Anpassung eines Neugeborenen

Die schwedische Ärztin Prof. Dr. Ann-Marie Widström vom Karolinska Insitut in Stockholm und ihr Team haben Kinder in den ersten Stunden nach der Geburt beobachtet und hunderte Stunden Videomaterial ausgewertet. Dabei entdeckten sie im direkten Haut-zu-Haut-Kontakt neun Phasen der nachgeburtlichen Anpassung.

Grundsätzlich bedeutet der unmittelbare Hautkontakt für Mutter und Kind viele Vorteile:

  • Kind kann seinen natürlichen Reflexen folgen und sich selbst anlegen = Stillstart
  • Stabilisierung aller Körperfunktionen
  • Vermeidung von Anpassungsstörungen
  • Stillen von Grundbedürfnissen
  • Förderung des Bondings, Basis für eine sichere Bindung
  • Förderung der Selbstregulation und Beruhigung
  • Verminderung von Stress und Schmerzen
  • Förderung der frühen Koordination der fünf Sinne des Kindes (Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Tasten)

Widström betont, es sei wichtig, dass das Kind in seinem eigenen Tempo diese neun Phasen der Anpassung durchlaufe. Das setzt natürlich voraus, dass das Kind fit und gesund ist und keine weiteren Maßnahmen notwendig sind.

Stillen Neugeborenen
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Die 9 Phasen – vom Neugeborenen geleitet

Phase 1: Geburtsschrei

Die erste Phase ist durch den initialen Geburtsschrei gekennzeichnet. Das Kind atmet das erste Mal selbständig und befreit die Luftwege vom Fruchtwasser. Es zeigt Reflexe, wie den Moro-Reflex. Dabei werden die Arme ruckartig zur Seite ausgebreitet und die Finger gespreizt. Das Baby sollte nun schnell abgetrocknet in Längsrichtung auf die Mutter gelegt werden. Dabei liegt das Köpfchen zwischen euren Brüsten.

Phase 2: Entspannung

Dies ist eine stille und bewegungslose Phase, die früher vermutlich zum Schutz vor Raubtieren diente. Oft ist das Krankenhauspersonal in dieser Phase beunruhigt und beginnt, das Baby abzurubbeln. Meistens zu Unrecht, wenn vorher alles okay war. Das Kind hört den Herzschlag der Mutter und entspannt einfach nur.

Phase 3: Erwachen

Das Baby fängt an, sich zu bewegen und macht kleine Mundbewegungen. Die Augen öffnen sich und fokussieren kurze Zeit später.

Phase 4: Aktivität

Das Baby bewegt sich nun zielgerichteter, dreht möglicherweise den Kopf und macht Zungenübungen. Das Neugeborene erkennt den Geruch der Mutterbrust vom Fruchtwasser und berührt die Brust mit der Hand und überträgt diesen Geschmack in den Mund. Hier sollte nicht von außen eingegriffen werden. Das Baby erkennt die Mamille und Stimme der Mutter und sucht etwa 30 Minuten nach der Geburt Blickkontakt – ein unvergesslicher Augenblick.

Phase 5: Ausruhen

Das Baby ruht sich aus, die Augen sind geöffnet oder geschlossen. Es kann auch schon an den Fingern saugen. Wichtig ist, diese Ruhe zu respektieren und nicht einzugreifen. Ansonsten muss das Baby danach wieder mit Phase 1 beginnen und die Wahrscheinlichkeit erhöht sich, dass es nicht bis Phase 8 zum Saugen kommt, bevor es in den Schlaf fällt.

Phase 6: Robben

Mit robbenden Bewegungen kann sich das Baby zwischen den Brüsten der Mutter an die Brustwarzen bewegen. Auch das reflexartige Treten der Füße stimuliert die Gebärmutter. Unterstützen kann man das Baby mit einer Hand unter dem Fuß bzw. die Mutter in der Lagerung so, dass die Brustwarze gut erreichbar ist.

Phase 7: Vertrautmachen

Das Baby stößt bittende Rufe aus, sobald es die Brustwarze erreicht. Es macht sich durch das Lecken von Brustwarze und Vorhof mit der Brust vertraut und formt diese. Es massiert die Brust und fördert so den Oxytocinausstoß bei der Mutter. Dies dauert etwa 20 Minuten und länger und ist entscheidend für den Stillerfolg. Häufig saugt das Baby ein bis zwei Mal und lässt dann die Brust wieder los. Dies ist normal und sollte nicht als Unfähigkeit interpretiert werden.

Stillen Neugeborenen
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Phase 8: Saugen

Das Neugeborene dockt an der Brustwarze an und trinkt. Die Hände hören auf sich zu bewegen, die Augen fokussieren. Wenn das Baby selbst an der Brust andockt, ist dies ein perfektes erstes Stillen, auch wenn es seine Haltung noch einmal verändert. Das Neugeborene braucht dafür keine Hilfe.

Phase 9: Schlafen

Nach etwa eineinhalb Stunden schläft das Baby das erste Mal wieder ein und muss entspannen.

Die beste Basis für einen guten Stillstart ist somit ein sofortiger, ungestörter und ausgedehnter Hautkontakt gleich nach der Geburt (mindestens eineinhalb Stunden ohne Unterbrechung). Erst nach der Schlafphase sollte das Babys angeschaut, gewaschen und gewickelt werden. Danach möglichst direkt wieder nackt auf die Mutterbrust. In den nächsten Wochen wirkt häufiger Hautkontakt unterstützend – am besten mindestens drei Stunden über den Tag verteilt. Bewährt hat sich ein Bonding-Top, welches das Kind etwas sichert (Kind immer vor dem Herunterfallen schützen) und beide wärmt. Zusätzlich solltet ihr als Mama natürlich unter einer Decke liegen. Diese physiologischen Phasen der Anpassung sind elementar wichtig für einen guten Start ins Leben und einen erfolgreichen Stillbeginn. Wo auch immer ihr also euer Kind gebären möchtet, ist es empfehlenswert, das betreuende Personal darauf anzusprechen und zu versuchen, eurem Kind diese so wichtige Anpassung zu ermöglichen.

Und noch ein Hinweis an alle, die bereits ein Kind bekommen haben, das nicht die Möglichkeit hatte, diese neun Phasen selbstständig zu durchlaufen: Bitte fühlt euch nicht schlecht. In vielen Fällen erhalten Mutter und Baby diesen Raum nicht. Warum? Ganz einfach, weil viele Hebammen diese Phasen nicht im Rahmen ihrer Ausbildung gelernt haben, weil die Zeit oft knapp ist oder es bei der Geburt Komplikationen gab. Und trotzdem haben wir viele erfolgreich stillende Mamas und glückliche Kinder auf dieser Welt. Eure Liebe und Nähe sind entscheidend – und das über die ersten Stunden hinaus.

Im nächsten Teil unserer Stillserie beschäftigen wir uns mit den häufigsten Stillproblemen im frühen Wochenbett und wie ein gutes Anlegen des Babys funktioniert.

Quelle: Deutsche Hebammen Zeitschrift, Haut an Haut, Widström et al., Ausgabe 10-2019