Vertrauen schaffen, die Bindung
stärken – ein Anspruch, den viele frischgebackene Eltern an sich haben. Sie
möchten perfekt sein, alles richtig machen und eine innige und eben
vertrauensvolle Beziehung zu ihrem Baby aufbauen. Doch was ist „richtig“? Kann
man in der Erziehung und als Eltern „perfekt“ sein? Und wie sieht so eine
gesunde innige Bindung überhaupt aus? Julie Mathieu, Eltern-Coach und Autorin
des Blogs sagefamily.fr begegnet in ihrem Alltag immer wieder Eltern,
die sich diese und andere Fragen stellen. Die sich viel Druck aufbauen und
daran fast verzweifeln.
In unserem Interview gibt sie
Einblicke in ihre Arbeit mit genau diesen Eltern und verrät, wie man bereits in
den ersten Lebensmonaten die richtige Basis für Vertrauen schafft. Denn schon
während des 4. Trimesters, das auch im Mittelpunkt der diesjährigen European Babywearing Week stand, wird der Grundstein für eine
gesunde Bindung gelegt.
Julie, Sie haben nach 11 Jahren als
Hebamme einen Karrierewechsel vollzogen und sind nun Eltern-Coach nach dem
empathischen Ansatz von Isabelle
Filliozat.
In Ihren Workshops „0-1 Jahr, die Grundlagen des Vertrauens" befassen Sie sich gemeinsam
mit frischgebackenen und zukünftigen Eltern mit den Grundlagen von Vertrauen.
Für ein besseres Verständnis davon beginnen
wir mit dem berühmten 4. Trimester, der Zeit unmittelbar nach der Geburt. Was bedeutet
dieser Zeitraum für die kindliche Entwicklung?
Ich verwende den Begriff „4. Trimester“
aus Prinzip nicht, weil ich ihn reduzierend finde. Denn schließlich sind nicht
nur die ersten drei Monate nach der Geburt von Bedeutung.
Die Grundidee dahinter ist, dass der
kleine neue Mensch unselbstständig und unreif geboren wird. Jeder weiß, dass
ein Baby insbesondere hinsichtlich Nahrung und Sicherheit auf die Hilfe von
Erwachsenen angewiesen ist. Doch das ist längst nicht alles! Das Neugeborene braucht
für seine Entwicklung, für sein Überleben noch etwas Fundamentales: Bindung! Es
muss sich geborgen, verbunden und geliebt fühlen. Diese emotionale Sicherheit
schafft schließlich die Grundlage für sein künftiges Selbstvertrauen und
Vertrauen in die Welt.
Das kindliche Gehirn ist noch nicht ausgereift.
Es braucht ein liebevolles und stützendes Umfeld, um sich zu entwickeln und zu
lernen, wie es mit Emotionen und Stress umgehen kann. Erst im Alter zwischen 25
und 30 Jahren gilt das Gehirn schließlich als reif.
Wenn es um die Säulen des Vertrauens
geht, sprechen Sie von Bindung, Sicherheitsbedürfnis und Erkundungsdrang. Ein
Paradoxon?
Das Konzept von Sicherheit und
Erkundung mag zunächst paradox erscheinen, für mich ergänzen sich die beiden
Begriffe aber vielmehr. Wenn sich ein Kind sicher fühlt, kann es die Welt
entdecken, erforschen, lernen und sein Potenzial ausleben.
Je mehr es sich der bedingungslosen
Liebe seiner Eltern sicher ist, umso mehr wird es sich trauen, sich ein
bisschen weiter raus zu wagen. Es weiß, dass es sich etwas entfernen, neues
ausprobieren, scheitern und wieder aufstehen kann. Seine Eltern werden immer
für ihn oder sie da sein – wie eine Säule, auf die es sich verlassen und wo es
immer schnell Energie tanken kann. Isabelle Filliozat vergleicht so eine
Bezugsperson mit einem Flugzeugträger. Das Kind entfernt sich, um die Welt zu
entdecken, und kommt schließlich wieder zurück, um Energie zu tanken. Je älter
es wird, umso ausgeprägter werden auch die emotionalen Reserven und das Kind
kann sich immer weiter wegbewegen.
Um sich in aller Ruhe von einer
Bezugsperson entfernen zu können, muss sich das Kind sicher sein, dass diese
bei der Rückkehr auch immer noch da ist. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass
es für ein Kind schwieriger sein wird, sich zu entfernen, wenn es diese
Gewissheit nicht hat bzw. die Beziehung instabil ist.
Es ist erst die Sicherheit, die
überhaupt Erkundung ermöglicht.
In zahlreichen französischen Familien
hören wir nach wie vor alle möglichen Ratschläge für frischgebackene Eltern,
wie „Das Kind muss allein schlafen, sonst wird es niemals unabhängig", „Lass
es ruhig mal weinen" oder „Es ist nur eine Laune". Nicht selten
verunsichern diese die jungen Eltern enorm. Wie erklären Sie sich das?
In Frankreich haben wir eine Kultur,
die immer noch stark von Freuds Vorstellungen der Psychoanalyse geprägt ist. Er
betrachtete das Kind als ein Wesen voller Laster und Impulse. Die Rolle der
Eltern bestand daher darin, Grenzen zu setzen, damit das Kind nicht seinen
niedrigen Instinkten folgte.
Die Bindungstheorie gibt uns die
Möglichkeit, diese Sichtweise radikal zu ändern. Das Neugeborene ist ein Wesen voller
Bedürfnisse, zu denen auch die Bindungssicherheit gehört. Die Rolle der Eltern
besteht somit vielmehr darin, dem Kind dabei zu helfen, seine Bedürfnisse zu
befriedigen und ihm die körperliche und emotionale Sicherheit zu geben, die es
für seine weitere Entwicklung braucht.
Vergessen Sie nicht, dass zur Ära
Freuds die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Gehirn und dessen Mechanismen begrenzt
waren. Heutzutage haben wir Zugang zu viel mehr Informationen. Dank der Neurowissenschaften
lernen wir jeden Tag etwas mehr über die Entwicklung des Gehirns und die
Mechanismen, die an dessen Reifung beteiligt sind. Wir wissen jetzt
beispielsweise, dass wiederholter Stress schädlich ist für das kindliche
Gehirn. Wir wissen auch, dass ein sanftes und liebevolles Verhalten unseren
Kindern gegenüber förderlich für die Reifung des Gehirns ist. Forscher und
Kinderärzte wie Catherine Gueguen befürworten deshalb in der Erziehung Wohlwollen
und die Bereitschaft, kindliche Emotionen ernst zu nehmen.
Und doch braucht es Zeit, um Gewohnheiten
zu ändern. Dies lässt sich teilweise durch die sogenannte kognitive Dissonanz
erklären. Auf der einen Seite steht das, was wir aus den neuen Erkenntnissen
lernen können – also das, was für das Kind am besten wäre. Auf der anderen
Seite steht unser Alltag, unsere Kindheit – also das, was wir als Kind erlebt
haben, was wir als Eltern gemacht haben und vielleicht noch heute machen.
Manchmal ist der Kontrast zwischen Theorie und Praxis zu groß und schmerzhaft.
Da es einfacher ist, unsere Gedanken anstatt unser Verhalten zu ändern, fügen
wir beide Seiten zusammen und geben Sätze von uns wie „Mir hat der Klaps von
früher auch nicht geschadet“.
Das Bewusstsein darüber, was uns
gefehlt hat bzw. was wir hätten besser machen können, ist schmerzhaft und
manchmal zu viel. Dies zu akzeptieren, braucht wiederum Zeit und nicht zu viel
Strenge.
Und was sagen Sie Eltern in solch
einer Situation?
Zunächst einmal besteht meine Arbeit
nicht darin, jemanden zu verurteilen oder ihm vorzuschreiben, wie man eine
Sache zu machen hat bzw. wie nicht. Das erste, was ich mit Eltern mache, ist,
sie dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden, und sie anzunehmen wie sie
sind. Jeder von uns hat seine eigene Geschichte, eigene Wunden aus der Kindheit
und Prinzipien, die von unseren Eltern an uns weitergegeben wurden. Hinzu kommt
noch gesellschaftlicher Druck. Eltern sollen in ihrer Erziehungsarbeit stets wettbewerbsfähig,
produktiv und kreativ sein. Gleichzeitig sollen Kinder aber so schnell wie
möglich unabhängig werden. Und all das wird begleitet von der stetigen Suche
danach, wie man Glück, Erfüllung und persönliche Entwicklung am besten fördern
kann. Man soll seine Kinder nicht anschreien, ihnen keinen Grund zur
Frustration geben, sie zu nichts zwingen ... Es gibt viele Forderungen, aber kaum
Ressourcen.
Ein wesentlicher Teil meiner Arbeit
besteht daher darin, Eltern ohne Vorurteile willkommen zu heißen und ihnen
aufmerksam und wohlwollend zuzuhören.
Anschließend teile ich gern ein paar
Erkenntnisse zur kindlichen Entwicklung, zu Stress und zu Emotionen. Ich erkläre
ihnen, warum das unreife Gehirn eines kleinen Babys noch kein launisches
Verhalten zulässt.
Danach höre ich häufig die typische Angst
von Eltern, dass ihr Kind nie unabhängig werde. Und ich erkläre ihnen
daraufhin, dass sie ihm gerade durch das Vertrauen die Sicherheit und Liebe
schenken, die es braucht, um selbstständig zu werden.
Mit diesem neuerworbenen Wissen
können Eltern schließlich Stück für Stück besser verstehen, was mit ihnen und ihrem
Kind passiert. Sie sind dann in der Lage, ihre individuellen Ressourcen zu
mobilisieren und eine eigene Art finden, Dinge anzugehen.
In den ersten Wochen verändern sich
die Lebensumstände besonders drastisch: ein völlig neuer Rhythmus, Müdigkeit durch
Schlafmangel, das Kind ist auf einmal das Zentrum des Familienlebens, die neue
Rolle als Vater, Mutter und auch als Paar… Wie kann man inmitten all dieser
Umwälzungen ein Gleichgewicht finden?
Ja, die Geburt eines Kindes stellt
einen großen Umbruch im Leben eines Paares dar. Dies gilt sowohl für das erste
Kind als auch für alle nachfolgenden. Jedes Mal wird es Zeit brauchen, um eine
neue Balance und eine neue Ordnung zu finden. Das sind alles Themen, die ich im
Workshop „0-1 Jahr, die Grundlagen des Vertrauens" behandle.
Es gibt drei wesentliche Säulen für
mich, um zur entsprechenden Balance zu gelangen.
Die erste ist, auf sich selbst Acht
zu geben. Die körperliche und geistige Belastung frischgebackener Eltern ist
nicht zu unterschätzen. Schlafmangel, Unsicherheit, Zwänge, Angst, etwas falsch
zu machen, Vorurteile von Mitmenschen usw. Nicht zu vergessen sind noch dazu all
die üblichen Stressfaktoren, wie Finanzen, Arbeit, Lärm, Umweltverschmutzung,
eine unausgewogene Ernährung, gesundheitliche Probleme, unterdrückte Emotionen,
Verletzungen aus der eigenen Kindheit.
Es ist daher wichtig, sich Zeit für
sich zu nehmen. Natürlich ist es dabei nicht einfach, sich einen ganzen Tag für
sich zu nehmen und sich zu erholen. Doch man kann in kleinen Schritten
beginnen, indem man beispielsweise besser auf die Ernährung und den eigenen Schlafrhythmus
achtet, sich mal ein paar Minuten Zeit nehmen, um ruhig durchzuatmen, Freunde
anzurufen und den Kopf freizukriegen. Manchmal muss man auch die Prioritäten
nochmal überdenken. Ist es beispielsweise wirklich so schlimm, wenn der
Hausputz nicht nach Plan läuft oder die Wäsche nicht pünktlich gebügelt wurde?
Der zweite wesentliche Punkt ist meiner
Meinung nach Kommunikation. Sowohl jene mit dem Nachwuchs als auch gemeinsam
als Paar. Wir neigen manchmal dazu, von unserem Partner Unmögliches zu
erwarten, hoffen, dass derjenige instinktiv weiß, was wir brauchen. Die
Wahrheit ist, dass niemand Gedanken lesen kann. Wenn Sie ein Bedürfnis nicht kommunizieren,
besteht das Risiko, enttäuscht zu werden und sich frustriert zu fühlen. In
dieser stressigen Zeit muss unser Partner unser Verbündeter sein. Es macht
daher viel mehr Sinn, Bedürfnisse zu kommunizieren und Gefühle miteinander zu
teilen. Ob Angst, Freude, Wut, Traurigkeit oder andere Emotionen, alles ist
besser, wenn jemand da ist, mit dem wir diese Gefühle teilen können. Wir denken
manchmal, dass wir unseren Partner schützen, indem wir unsere Ängste oder
unseren Ärger vor ihm verbergen. In Wahrheit tut uns das Teilen unserer Gefühle
gut, bringt uns einander näher und stärkt unsere Beziehung.
Der letzte wichtige Punkt ist aus
meiner Sicht schließlich, zu wissen, dass man um Hilfe bitten kann. Wir sind
nicht dafür konzipiert, ein Kind ganz allein großzuziehen. "Es braucht ein
ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen", lautet ein afrikanisches
Sprichwort. Kein Elternteil ist davor gefeit, sich an manchen Tagen überfordert
und hilflos zu fühlen. Gerade in diesen Zeiten ist es wichtig, nicht allein zu
sein. Vertrauen Sie sich ihrem Partner, einem Freund, ihrer Familie oder einem Profi
an. Das kann den Druck merklich schmälern. Wir Eltern-Coaches sind auch dafür
da.
Wenn Eltern um Hilfe bitten, können
sie Kraft tanken und sich dann ihrem Kind wieder vollständig widmen.
Wie kann das Tragen des Babys die
Balance fördern?
Das Tragen des Babys ist aus
verschiedenen Gründen eine sehr interessante Ressource.
Ein wichtiger und offensichtlicher
Vorteil ist, dass Tragehilfen die Hände freihalten! Wenn wir uns um ein
Neugeborenes kümmern, dann tragen wir es meist in den Armen. So ist es aber
kaum möglich, nebenbei noch etwas anderes zu tun. Indem wir das Kind in einer
Babytrage oder einem Tuch tragen, können wir es einfacher transportieren und
nebenbei auch noch andere Dinge tun bzw. erledigen. Dabei hat es unser Baby
bequem und es kann sich geborgen fühlen.
Für die Eltern ist es angenehm und
beruhigend, ihr Kind in der Nähe zu haben. Säuglinge schlafen oft besser, wenn
sie getragen werden und weinen weniger. Für das Baby bedeutet Körperkontakt durch
das Tragen Geborgenheit. Es kann den Geruch der Eltern wahrnehmen, den
Herzschlag hören und Berührungen spüren. Die Bewegung des Trägers initiiert
zudem ein sanftes Schaukeln, das auf Kinder beruhigend wirkt. Die vertikale
Position, die Körperwärme des jeweils anderen und eine sanfte Massage aufgrund
der Bewegung verbessern die Verdauung und reduzieren den gastroösophagealen
Reflux.
Schließlich werden durch das Tragen ein
enger Körperkontakt und die Nähe gewährleistet, die förderlich sind für eine enge Bindung. Ich möchte an diesem Punkt klarstellen,
dass für das Ausschöpfen all dieser Vorteile eine physiologisch korrekte Trageposition gewählt werden muss: Die Knie des
Kindes müssen im Sitzen höher gelagert sein als der Po, der Rücken muss abgerundet
sein und das Kind muss mit dem Gesicht zum Tragenden positioniert sein, wobei
Po und Rücken gestützt werden müssen.
Und haben Sie zum Abschluss einen
allgemeinen Rat, um frischgebackenen Eltern Schuldgefühle zu nehmen und ihnen
Vertrauen zu geben?
Ich würde genau das empfehlen, was ich schon als Hebamme den Eltern,
die ich betreut habe, stets geraten habe. Hören Sie sich an, was andere sagen,
und wägen Sie ab. Worauf basiert der Ratschlag? Kommt er ihnen vernünftig und
schlüssig vor? Hören Sie dann auf Ihr Bauchgefühl, auf Ihre Intuition und
vertrauen Sie auch Ihrem eigenen Kind. Ihre Entscheidung ist die richtige für
Sie und für Ihr Kind. Es braucht keine perfekten Eltern, es braucht Sie! Und dann
ist es schon perfekt.