Wisst ihr eigentlich, wie viele Muskeln und Knochen beim Laufen benutzt werden? Unsere Trage-Expertin Mieke schon. Und nicht nur das. In unserem heutigen Expertentipp des Monats erklärt sie, warum es bei dem einen Kind schneller und bei dem anderen weniger schnell geht mit dem Laufen – und warum in beiden Fällen kein Grund zur Sorge besteht.
Ein Neugeborenes kann zwar kurz nach der Geburt schon Lageveränderungen spüren, aber sich selbstständig fortbewegen und laufen? Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Im Vergleich zu anderen Säugetieren kommt ein menschliches Baby unreif zur Welt. Man bezeichnet es auch als physiologische Frühgeburt. Bei der Geburt sind die Knochen noch weich und knorpelig und verfestigen sich erst nach und nach durch die Einlagerung von Mineralien. Vollständig abgeschlossen ist dieser Vorgang erst mit etwa 15 Jahren.
Die Kontraktionen der Muskeln, die alle unsere Bewegungen bewirken, werden durch das Zentralnervensystem ausgelöst und gesteuert. Bei der Geburt sind zwar alle Muskeln vorhanden, sie sind aber noch nicht alle funktionstüchtig. Das Nervensystem ist noch unreif und die entsprechenden Nervenverbindungen müssen sich noch ausbilden.
Die Reihenfolge ist vorgegeben, nicht aber das Alter
Analog zur Reifung des zentralen Nervensystems gelingt es dem Kind im ersten Lebensjahr immer besser, seine Bewegungen bewusst zu steuern. Die motorische Entwicklung ist allerdings absolut individuell und folgt keinem Zeitplan. Sie ist von vielen verschiedenen Faktoren abhängig. Beispielsweise haben es Kinder, die von Geburt an eine sehr geringe Muskelspannung haben (hypoton), häufig schwerer als andere Kinder. Kinder, die genetisch bedingt in den notwendigen Hirnarealen eine höhere Anzahl Neurotransmitter haben, haben hingegen einen Vorteil. Bei ihnen fließen die Informationen schneller und leichter zwischen den Nervenzellen hin und her und weiter zu den Muskeln. Erst wenn Nervensystem, Knochen, Bänder, Muskeln und Gelenke bereit sind, den Körper zu tragen, wird das Kind die ersten Lauf-Versuche machen.
Jeder Bewegungsablauf baut auf dem vorher Gelernten auf: Ein Baby lernt immer zuerst seinen Kopf leicht anzuheben. Danach ihn dauerhaft zu halten, während es sich in Bauchlage auf die Unterarme stützt. Anschießend kann es ihn dann wieder kontrolliert ablegen. Als nächstes hebt das Baby den Kopf auch in Rückenlage an.
Ein weiterer Entwicklungsschritt ist dann, dass das Baby sich immer mehr auf die Hände stützt anstatt auf die Unterarme, es richtet sich wie eine Kobra auf. Später lässt es dann sogar mal eine Hand los, um etwas zu greifen. Das Gewicht ruht nun auf Bauch und Händen. Ist das geschafft, folgt das Sich-Drehen. Erst nur von der Bauch- in die Rückenlage, danach dann auch zurück und quer durch den Raum. Im nächsten Entwicklungsschritt beginnt das Baby sich in Bauchlage fortzubewegen: erst etwas unkoordiniert und dann immer gezielter. Dem folgt das Krabbeln, das Sitzen und erste Stehversuche.
Die Reihenfolge ist also vorgegeben, nicht aber das Alter, in dem das Baby die einzelnen Fähigkeiten erlernt. Die meisten Babys machen ihre ersten freien Schritte mit 13-15 Monaten, es gibt aber genauso Kinder, die schon mit 9 Monaten laufen oder diejenigen, die es mit 18 Monaten immernoch nicht tun.
Tragen fördert die motorische Entwicklung
Gezieltes Training und „laufen üben“ bringt übrigens laut Zwillingsuntersuchungen keine nachweisbaren oder dauerhaften Vorteile. Genauso zeigen Beobachtungen in verschiedenen Kulturen – wie etwa der Hopi-Indianer – dass auch Kinder, die in ihrer Bewegungsmöglichkeit komplett eingeschränkt werden, nicht später laufen lernen.
Das Entwicklungstempo zum Laufen lernen hängt also an Reifeprozessen im Gehirn und dem Muskelaufbau. Um erfolgreich zu laufen, müssen etwa 60 Knochen bewegt werden und mehr als 60 Muskeln zusammenarbeiten – eine Wahnsinnsleistung vom zentralen Nervensystem! Das Baby in Tuch oder Tragehilfe am Körper zu tragen, hindert das Baby also erwiesenermaßen nicht am Laufen lernen. Während es im Kinderwagen nur passiv geschoben wird, schwingt es beim Tragen sogar aktiv mit und erhält permanent Stimulationen, die den Muskelaufbau anregen, den Gleichgewichtssinn schulen und auch die Hirnentwicklung anregen.